Lilly Kohn
Verfasser: Christian Robisch, Maximilian Skotnica
Lilly Kohn war eine selbstbewusste und starke Frau.
Tochter aus gutem Haus
Sie wurde am 12. März 1892 als zweites von sechs Kindern von Ida Kohn (geb. Dinkelspühler, 1860-1917) und Samuel Kohn (1851-1922) geboren. Zwei der Geschwister starben bereits im Kindesalter, Bruder Otto starb mit 11 Jahren.
Ihr Vater war als erfolgreicher Korbhändler mit internationaler Ausrichtung, Stadtrat und langjähriger Vorsteher der Israelitischen Gemeinde von Lichtenfels ein hoch angesehener Mann, der sich sozial stark für „sein“ Lichtenfels engagierte. Er war einer der fünf Begründer der Privaten Realschule Lichtenfels (später: Meranier-Gymnasium), und er rief nach dem Tod seiner Ehefrau eine Stiftung zur Unterstützung bedürftiger Lichtenfelser (dezidiert unabhängig von deren Bekenntnis) ins Leben.
Lilly wuchs mit ihren beiden Geschwistern Max und Minna im repräsentativen Wohn- und Geschäftshaus in der Kronacher Straße 20 auf und arbeitete im Unternehmen mit.
Sie heiratete 1922 den Bamberger Hopfenhändler Hans Gerst, bereits 1923 jedoch wurde diese Ehe wieder geschieden, und sie nahm ihren Mädchennamen wieder an. Lilly zog ihren Sohn Walter aus dieser Ehe alleine groß.
Auf eigenen Füßen
1932 brach die vom Bruder Max geleitete Korbhandlung in der Weltwirtschaftkrise zusammen.
Max wanderte nach England aus, das gesamte Familienvermögen einschließlich des Hauses ging wohl in den Konkurs.
Wie Lilly den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn nun finanzierte, lässt sich nur teilweise erschließen.
Sie gründete ein „Etagengeschäft“ (d.h. reiner Vertrieb ohne öffentlichen Laden) zum Vertrieb von Kaffee und Tee, das sie aus der Wohnung heraus betrieb.
Sohn Walter erzählte, dass er Lieferungen an die Kundschaft mit dem Fahrrad zu erledigen hatte.
Zudem hat sie sich in Säuglings- und Kinderpflege qualifiziert.
Leben unter NS-Diktatur
Lillys Sohn Walter gab in seinen Aufzeichnungen anschauliche Schilderungen der alltäglichen kleinen und großen Demütigungen, denen Juden in Lichtenfels ausgesetzt waren.
Lilly Kohn wurde in der NS-Zeit zweimal zum Umziehen gezwungen: 1934 wurde in ihrem Geburtshaus in der Kronacher Str. 20, das inzwischen der Sparkasse gehörte, die NSDAP-Kreisleitung eingerichtet, 1937 musste sie aus der Bamberger Str. 44 ausziehen, weil dort angeblich Bedarf einer kriegswichtigen Firma bestand. Im Haus der jüdischen Gemeinde Judengasse 14 erlebte sie die Schändung der Synagoge unmittelbar mit. Dies gab den letzten Anstoß zur Auswanderung
Flucht aus Deutschland
Ihr Bruder Max besorgte ihr und ihrem Sohn Walter Arbeitsstellen in Großbritannien, ohne die eine Einwanderung unmöglich war. Allerdings verzögerte sich die Angelegenheit bei Walter, sodass Lilly im März alleine nach London reisen und ihr 16-jähriges Kind in Nazi-Deutschland zurücklassen musste. Die Verwandte Clara Rosenbaum aus Wannbach / Pretzfeld (71 Jahre alt) kümmerte sich um den Jungen. Erst im Juni 1939 konnte er seiner Mutter in einem „Kindertransport“ nach England folgen. Das Trauma der Angst um ihren Sohn hat Lilly nach Aussagen der Familie nie ganz verwunden.
In London arbeitete sie als Haushälterin, Alten- und Kinderpflegerin und ging dieser Tätigkeit dann auch ab März 1947 in New York nach, wohin sie mit ihrem Sohn auf Vermittlung ihrer Schwester Minna auswanderte.
Ein neues Leben in den USA
„Lilly lebte bis zu den letzten Monaten ihres Lebens allein. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und Bäckerin. Sie konnte fast alles mit Nadel und Faden herstellen. […} Sie konnte Spitzen klöppeln und war immer am Stricken. Sie war neugierig auf die Welt und las Bücher sowohl in Englisch als auch in Deutsch. Sie las die New York Times und deutsche Zeitungen. Sie liebte ihre Familie und ihre Freunde. Sie schrieb Briefe und blieb mit vielen Menschen in Kontakt, bis zu ihrem Tod.
Vor allem aber war Lilly freundlich. Wenn man ihr sagte, dass man etwas mochte, sorgte sie dafür, dass sie es besorgte, wenn sie konnte. Einer ihrer Neffen wurde Veganer. Lilly lernte, ohne Eier und Butter zu backen, damit sie ihm immer noch seine Lieblingskuchen und -kekse machen konnte, wenn er zu Besuch kam. (Das war viele Jahre vor dem Internet und den vielen Lebensmittelersatzprodukten, die es heute gibt.)
Lilly starb 1985, nachdem sie sich die Hüfte gebrochen hatte. Sie ist in New Jersey begraben, neben ihrer Schwester.“
(Sharon Kohn über ihre Großmutter, E-Mail vom Januar 2021)